Wer Menschen verwurzelt, entmündigt sie

Es geht um Gesellschaft, nicht um Heimat

Heimat als Konzept ethnischer Vergemeinschaftung, als natürlicher Ort der Sinngebung und Wesensprägung, ist eine modernisierte Form völkischer Gemeinschaftsvorstellung. Angesichts der sozialen und ökonomischen Verwerfungen, die moderne Gesellschaften im globalisierten, „autoritären Kapitalismus“24 prägen, gewinnen solche Naturkollektive an Bedeutung. Ihre Attraktivität ergibt sich aus ihrem Charakter als unkündbare, naturgegebene Solidar- und Anspruchsgemeinschaften im Angesicht immer prekärer werdender Verhältnisse und zunehmender globaler Konkurrenz.25 Hier muss eine gesellschaftskritische Perspektive ansetzen und die Ursachen für das in der Heimat vergrabene Bedürfnis nach natürlicher Zugehörigkeit, Geborgenheit und Authentizität herausarbeiten. Denn die Erfahrung der Entfremdung und des Kontrollverlustes, aus der sich dieses Bedürfnis speist, ist durchaus real. Das sprach der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei an, als er im März 2018 in einem Interview erklärte: „Wenn jemand seine Heimat als Schutzraum sieht, soll er diesen Schutzraum haben.“26 Er knüpft an das nachvollziehbare und legitime Bedürfnis nach Sicherheit an, das sich hier jedoch reaktionär gewendet niederschlägt. Denn die realen, materiellen Ursachen der Entfremdung werden überdeckt und gesellschaftliche Probleme entpolitisiert. 2017 forderte der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel im Spiegel, dass die SPD sich statt mit Umverteilung mehr mit Identität und Heimat beschäftigen solle. Auch sonst ist mittlerweile alles Heimat: Der Ausbau des Breitbandnetzes, der Nahverkehr, bezahlbarer Wohnraum, ausreichende Rente, der Schutz der Natur und des Einzelhandels.27 Als bloße soziale Forderungen nach Grundversorgung scheinen diese kaum noch Berechtigung zu besitzen, sondern nur, wenn sie im Namen der Heimat aufgestellt werden. Und wenn die Mieten weiter steigen und die Renten weiter sinken und der Bus immer noch nicht ins Dorf fährt, werden schnell die Leute dafür verantwortlich gemacht, die hier „fremd“ sind und denen an unserer Heimat nichts liegt. Bis hinein in die Linkspartei wird ein sozialstaatlicher Konkurrenzkampf zwischen „Einheimischen“ und Zugewanderten beschworen.


Denn die Suche nach der verlorenen Heimat beinhaltet stets auch die Suche nach den Schuldigen, die einem den Eintritt ins Paradies verwehren.


Heimat bietet ein Gefühl von Sicherheit, ist aber zugleich von stetiger Auflösung und Zersetzung durch das Fremde bedroht. Diese Verbindung ist mittlerweile empirisch belegt: „Heimatverbundenheit, Vorstellungen von einer exklusiven Gemeinschaft der Ansässigen und Ausgrenzung von ,Fremden‘ bilden also einen Zusammenhang“, lautet ein Fazit des Thüringen-Monitors, der im November 2018 von der Universität Jena veröffentlicht wurde.28

Das Konzept Heimat kann keine Antworten auf gesellschaftliche Probleme bieten. Es soll die Entfremdung rückgängig machen und die Menschen mit den Verhältnissen versöhnen, jedoch ohne die materielle Basis anzutasten, die für die Entfremdung ursächlich ist. Da dieser Sehnsuchtsort, als Ort frei von Differenzen, Konflikten und Widersprüchen, notwendigerweise unerreichbar bleibt, schlummert unter der oberflächlichen Liebe zur Heimat bereits die Gewalt. Denn die Suche nach der verlorenen Heimat beinhaltet stets auch die Suche nach den Schuldigen, die einem den Eintritt ins Paradies verwehren.


Mit den wichtigen Fragen zu Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Teilhabe sowie gemeinsamen Werten und Formen des Zusammenlebens hat die Heimatdebatte wenig zu tun.


Mit den wichtigen Fragen zu Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Teilhabe sowie gemeinsamen Werten und Formen des Zusammenlebens hat die Heimatdebatte wenig zu tun. Wie wir gesehen haben, geht es in ihr um die Suche nach kollektiver Identität, und diese geht immer einher mit der Bestimmung und Markierung derjenigen, die nicht dazugehören. Je tiefer dabei nach Wurzeln gegraben wird, desto größer fällt die darauf aufbauende Ausgrenzung des Anderen aus. Heimat ist, historisch wie inhaltlich, ein rechter Begriff. Die unzähligen Versuche, ihn umzudeuten, sind aufgrund seines Wesensgehaltes zum Scheitern verurteilt.

Ob Heimat oder Nation: Statt dafür zu streiten, dass die Gemeinschaftsvorstellung pluralistischer wird und Grenzen der Zugehörigkeit weiter gezogen werden, sollten wir die Konzepte an sich infrage stellen. Worüber wir reden müssen ist Gesellschaft, nicht Gemeinschaft. Wir müssen politische und soziale Probleme als solche benennen und dagegen arbeiten, dass sie als Teil der Heimatdebatte identitär aufgeladen werden. Wir müssen über Formen der Zugehörigkeit, Teilhabe und Gleichberechtigung diskutieren, die der Realität der postmigrantischen Gesellschaft entsprechen. Das bedeutet auch, über strukturellen Rassismus, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu reden. Wir sollten Differenz und Unterschiede anerkennen und zulassen, anstatt zu versuchen, sie im nationalen oder heimatlichen Wir einzuebnen. Und nicht zuletzt sollten wir die Frage der Zugehörigkeit entkoppeln von Heimat, Nation und Identität und sie verbinden mit der Frage der Solidarität. „De-Heimatize Belonging“ forderte in diesem Sinne die Politologin Bilgin Ayata, um „über Zugehörigkeit und Gesellschaft jenseits verklärter Heimatrhetoriken neu nachzudenken“.29


24Vgl. Heitmeyer (2018). Der Begriff „autoritärer Kapitalismus“ soll darauf verweisen, dass der Kapitalismus immer mehr Bereiche des Lebens in Besitz nimmt und der Kontrolle der Menschen entzieht.

25Vgl. Adamczak (2019), Heitmeyer (2018).

26Ramelow (2018).

27Im Regierungsprogramm der CDU Sachsen sind all diese Politikfelder unter „Heimat in Stadt und Land“ aufgeführt. Die sächsische SPD nennt ihr Programm für bessere Bildungs- und Ausbildungschancen „Heimat 4.0.“.

28Die Studie zeigt, dass die Zustimmung zu den verschiedenen Aspekten der „Ausländerfeindlichkeit“ in Thüringen noch einmal fünf bis zehn Prozent größer ist als im ostdeutschen Durchschnitt. Zugleich gaben 96 Prozent der Befragten an, dass ihnen ihre Heimat „wichtig“ oder „sehr wichtig“ sei, womit die Thüringer:innen noch über dem Bundestrend liegen. Die Studie stellte einen Zusammenhang zwischen diesen Umfrageergebnissen fest, vgl. Reiser et al. (2018).

29Ayata (2019).


Zum Autor

Dr. Thorsten Mense ist freiberuflicher Soziologe und Journalist. Er lebt und arbeitet in Leipzig und ist dort Mitglied im Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (FKR) bei Engagierte Wissenschaft e. V. Er hat zahlreiche Texte zu Nationalismus, zur Neuen Rechten und zu sozialen Bewegungen veröffentlicht. 2016 erschien von ihm das Buch „Kritik des Nationalismus“ (Schmetterling Verlag). Zusammen mit Thomas Ebermann hat er eine szenische Lesung zum Thema „Heimat“ konzipiert und in über 50 Städten aufgeführt: heimatfeindschaft.de

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Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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