Ziviler Ungehorsam: Demokratien als riskante Ordnungen

3. Ziviler Ungehorsam in der Demokratie

Ziviler Ungehorsam gehört nicht unwidersprochen und selbstverständlich zu den legitimen Mitteln demokratischer Rechtsstaaten. Der Staatsrechtler Martin Kriele hat über die Fragen von Revolution, Volkssouveränität und Verfassung geschrieben und in diesem Kontext den zivilen Ungehorsam als illegitimes Mittel des Protestes angesehen. Für ihn ist die Revolution der Ort der Volkssouveränität, eine ungebändigte Macht jenseits einer institutionellen Einhegung, jenseits der Rechtsordnung. Sie tritt nach der Gründung rechtsstaatlich verfasster Demokratien ab und ruht solange, wie die Verfassung nicht infrage gestellt wird. Für ihn gibt es jenseits der politischen und rechtlichen Institutionen keinen Ort der Volkssouveränität, weil niemand außerhalb der Rechtsordnung stehen darf. Aus Schutz vor ihr kann das Volk nur in geregelten Verfahren, zum Beispiel bei der Wahl, seine Kritik und seinen Protest äußern. Hier drückt sich die Sorge vor dem willkürlichen, unplanbaren Handeln des ‚Volkes‘ aus, in dem eine Gefährdung für die Rechte des Einzelnen gesehen wird.13

Für Arendt war diese Position gefährlich. Sie kritisierte den Ausspruch eines der sogenannten Gründerväter der USA, Benjamin Rush, demzufolge „zwar alle Macht vom Volke stammt, das Volk aber diese Macht nur am Wahltag besitzt, wonach sie Eigentum der Regierenden wird“.14 Arendt widersprach: Das sei nichts anderes als eine Wahl, durch die sich die Wähler:innen ihrer eigenen Macht entledigen würden.15 In diesem Modell könnte der Begriff des Gehorsams durchaus sinnvoll angewendet werden. Allerdings wird diese Position von verschiedenen Seiten scharf angegriffen:

„Als einzige Alternative zum Störer und Unruhestifter […] erscheint der friedliche Demonstrant – ein Bürger, der aus Pflicht und Gewohnheit zur Wahlurne geht, vielleicht Versammlungen der eigenen Partei besucht und gelegentlich an einer Kundgebung […] teilnimmt. Aus der Perspektive einer Obrigkeit, die für Ruhe und Ordnung zu sorgen hat, zeigt die demokratische Willensbildung des […] Souveräns ein bleiches, eingeschüchtertes, zahnloses Antlitz.“16

So hat Habermas das Bild des oder der Bürger:in beschrieben, das hinter der Position Krieles steht. Es ist das Bild einer Demokratie, so Günter Frankenberg, als einer „staatlich geregelte[n] Veranstaltung mit den Bürgern als ‚Staatsteilnehmern‘“.17 Im Widerspruch zu Kriele kann der zivile Ungehorsam als Element einer reifen politischen Kultur verstanden werden.18 Aber wie hängen die beiden Ideen zusammen und wie kann ziviler Ungehorsam in einer Demokratie gerechtfertigt werden?


Im Widerspruch zu Kriele kann der zivile Ungehorsam als Element einer reifen politischen Kultur verstanden werden.


3.1 Ziviler Ungehorsam als der heroische Akt der oder des Einzelnen

Der Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ von David Thoreau erschien 1849. Für Thoreau stand die Beziehung zwischen dem Bürger und seinem Gewissen im Vordergrund der Überlegungen. Er selbst weigerte sich, Steuern zu zahlen an eine Regierung, die die Sklaverei unterstützt: „Ich bin in diese Welt gekommen, um darin zu leben, ob nun schlecht oder recht, aber nicht unbedingt, um sie so zu verbessern, daß man gut darin lebt. Ein Mensch soll nicht alles tun, sondern etwas; und weil er nicht alles tun kann, soll er nicht ausgerechnet etwas Unrechtes tun.“19 Es sind die Einzelnen, die aufgerufen sind, sich zu entscheiden und sich der Ungerechtigkeit durch Ungehorsam zu entziehen:

„Wenn nun aber […] der Steuereinnehmer oder irgendein anderer Beamter mich fragt: ‚Was soll ich jetzt aber tun?‘, so ist meine Antwort: ‚Wenn Du wirklich etwas tun willst, dann lege dein Amt nieder. Wenn einmal der Untertan den Gehorsam verweigert und der Beamte sein Amt niedergelegt hat, dann hat die Revolution ihr Ziel erreicht.“20

Der einzelne Mensch steht bei Thoreau im Mittelpunkt der Betrachtung. Er ist der Akteur, der eine Gewissensentscheidung fällt und sich gegebenenfalls dem Gehorsam gegenüber einem Gesetz entzieht. Ist Ungerechtigkeit die Konsequenz aus der Befolgung eines Gesetzes, so ist es ihm überlassen, sich für den Ungehorsam zu entscheiden: „[W]enn aber das Gesetz so beschaffen ist, daß es dich zwingt, einem anderen Unrecht anzutun, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“21

Es gibt aktuelle Beispiele, die für diese Form des zivilen Ungehorsams stehen könnten, etwa Carola Rakete, die Kapitänin eines Rettungsschiffes, die trotz des ausdrücklichen Verbotes der italienischen Regierung Flüchtlinge in den Hafen von Lampedusa anlandete. Dieses Beispiel wird unten mit einer weiterführenden Perspektive noch einmal aufgenommen.

3.2 Die Macht der Vielen: Ziviler Ungehorsam als politischer Akt

Arendt hielt zwar die Forderung Thomas Jeffersons für unsinnig, dass es ein Recht geben müsse, „zu rebellieren und Revolutionen in die Wege zu leiten“,22 jedoch versteht sie den Grund für diese Forderung: Nach den Revolutionen wird mit der Verfassungsgebung zwar ‚dem Volk‘ die Freiheit gegeben. Allerdings enthält die neue Ordnung „keinen Raum, in dem diese Freiheit nun auch wirklich ausgeübt werden konnte“. Arendt spricht von der nachvollziehbaren „Empörung der Ungerechtigkeit“, dass es nur einer Generation vergönnt gewesen sein soll, „die Welt von Neuem zu beginnen“.23 Hier verbirgt sich Arendts Kritik an der repräsentativen Demokratie, in der nur die gewählten Repräsentant:innen in Arendts Sinne politisch tätig und das heißt: frei sein konnten.24 Die zentrale Frage für sie ist also die Frage nach dem Ort der Freiheit in einer Demokratie, die die Revolution mit der Verfassungsgebung stillgestellt hat. Sie ist auf der Suche danach, wie der revolutionäre Geist in die stabilen Ordnungen gerettet werden könnte. Der zivile Ungehorsam ist eine Möglichkeit, diesen revolutionären Geist aufrechtzuerhalten.


Der zivile Ungehorsam ist eine Möglichkeit, diesen revolutionären Geist aufrechtzuerhalten.


Allerdings fasst Arendt den Begriff des zivilen Ungehorsams anders als Thoreau. Sie hielt seine Überlegungen für politisch unüberzeugend. Etwas spöttisch schrieb sie, mit Verweis auf seine Gefängnisstrafe, über ihn: Sein „Verhalten ist eine reine Freude für Juristen, weil es anscheinend den Beweis dafür erbringt, daß Ungehorsam gegen das Gesetz sich nur dann rechtfertigen läßt, wenn der Rechtsbrecher bereit oder gar darauf erpicht ist, die Strafe für seine Tat auf sich zu nehmen.“25 Für Arendt ist der zivile Ungehorsam nicht so sehr eine juristische, sondern vielmehr eine politische Angelegenheit, weil in ihm die Möglichkeit eines Neuanfangs ausgedrückt werden kann.


Für Arendt ist der zivile Ungehorsam nicht so sehr eine juristische, sondern vielmehr eine politische Angelegenheit, weil in ihm die Möglichkeit eines Neuanfangs ausgedrückt werden kann.


Denn Politik zielt bei Arendt nie auf die Aktion eines Einzelnen und so ist auch ihre Perspektive auf den zivilen Ungehorsam eine andere als Thoreaus: Der zivile Ungehorsam tritt „niemals als Handlung eines einzelnen Individuums in Erscheinung. […] Der Protagonist des zivilen Ungehorsams kann nur als Mitglied einer Gruppe auftreten und auch nur so sich behaupten.“26

Es agiert nie eine einzelne Person, isoliert und losgelöst, sondern das Handeln findet bei Arendt immer in Bezügen zu anderen statt. Im zivilen Ungehorsam ist es zumeist eine organisierte Minderheit bzw. eine bislang ungehörte Gruppe, die durch geteilte Überzeugungen zusammengehalten wird und sich durch ihren Gesetzes- oder Regelbruch Gehör verschaffen will.27 Die Gehorsamsverweigerung findet bei Arendt im „Namen und um einer Gruppe willen“28 statt.

Insofern entsteht bei ihr der zivile Ungehorsam erst dann,

„wenn eine bedeutende Anzahl von Staatsbürgern zu der Überzeugung gelangt ist, daß entweder die herkömmlichen Wege der Veränderung nicht mehr offenstehen, bzw. auf Beschwerden nicht gehört und eingegangen wird oder daß im Gegenteil die Regierung dabei ist, ihrerseits Änderungen anzustreben, und dann beharrlich auf einem Kurs bleibt, dessen Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit schwerwiegende Zweifel aufwirft.“29

Der zivile Ungehorsam bezieht sich immer auf den kollektiven Akt des politischen Widerspruchs. Arendt lenkt damit den Blick auf das Bezugsstiftende im Akt des zivilen Ungehorsams, der als „kollektive Praktik […] der Machtkonstitution“ verstanden werden kann. Es ist bei ihr also kein heroischer Akt einer unabhängigen und nur ihrem Gewissen verpflichteten Einzelnen, sondern vielmehr eine „Assoziation koordiniert Handelnder“.30

Insofern kann mit einer anderen Perspektive auf die Seenotrettung Carola Raketes geblickt werden. Zwar handelte sie als verantwortliche Kapitänin. Aber sie handelte mit großer Unterstützung der verschiedenen Flüchtlingsgruppen, mit der Crew an Bord, mit den Passagier:innen und verschiedenen Politiker:innen. Es ist also kein einzelner heroischer Akt, sondern ein Handeln, das getragen ist von Vielen, die sich hier einig waren. Sie machen den Akt dadurch zum Teil eines demokratischen Streits, zur Sache der Aushandlung. Die Philosophin Donatella Di Cesare macht in Bezug auf Carola Rakete den zivilen Ungehorsam zu einem wichtigen Bestandteil demokratischer Staaten:

„Die Pflicht zum Ungehorsam gilt nicht nur für tyrannische oder totalitäre Systeme. Sie ist das Salz der Demokratie. Die Bürger sind keine Untertanen. Sie brauchen ein Gesetz, das die verfassungsmäßigen Grenzen überschritten hat, nicht unterwürfig zu akzeptieren.“31

Der zivile Ungehorsam steht gegen die drohende Verkrustung politischen Handelns, die entsteht, wenn es sich nur in institutionellen Verfahren äußern kann. Er eröffnet einen politischen Raum jenseits der tradierten staatlichen Institutionen und verweist damit auf die Unfertigkeit von Demokratien. Insofern bleiben revolutionäre Momente, die als ziviler Ungehorsam gefasst werden können, in der Demokratie bestehen. Revolutionen werden mit der Verfassungsgebung nicht gänzlich stillgestellt und eröffnen die Möglichkeit für die Anfechtung nachrevolutionärer Grenzziehungen insbesondere durch marginalisierte Gruppen, wie sie in dem Eingangszitat von Soujourner Truth zum Ausdruck kommen.


Der zivile Ungehorsam steht gegen die drohende Verkrustung politischen Handelns.


Der zivile Ungehorsam wird gerade für diese Gruppen zur Möglichkeit, sich in dieses Wir einzuschreiben und es zu verändern. Der Weg über anerkannte institutionelle Verfahren ist ihnen oftmals nicht möglich oder sie sind kaum effektiv. Sie haben keine Möglichkeit, die Stimme zu erheben und Gehör zu finden, um den politischen Streit zu initiieren. Was hier passiert, ist die Erweiterung des politischen Raums, nicht dessen Zerstörung: „Wer unfolgsame Minderheiten für Rebellen und Verräter hält, verstößt gegen Buchstaben und Geist der amerikanischen Verfassung, deren Schöpfer sich der Gefahr einer zügellosen Mehrheitsherrschaft besonders bewusst waren.“32 Das Stillstellen der Revolution durch die Verfassung darf für Arendt nicht darin münden, dass der „revolutionäre Geist“ durch das „ungeheure Gewicht der Verfassung“ erstickt werden würde. Das wäre ihre Antwort auf die „Gesetz ist Gesetz“-Mentalität gewesen.33 Das Nachdenken über den zivilen Ungehorsam bedeutet damit auch, die grundlegende Konflikthaftigkeit von Politik in demokratischen Ordnungen anzuerkennen.


13 Kriele (2003 [1980]).

14 Rush, zitiert nach Arendt (1994 [1963]): 303.

15 Arendt (1994 [1963]): 304.

16 Habermas (1985): 79.

17Frankenberg (1984): 266.

18Habermas (1985): 81.

19Thoreau (2012 [1849]): 34.

20Ebd.: 40.

21Ebd.: 33.

22Arendt (1994 [1963]): 299.

23Ebd.: 302.

24Ebd.

25Arendt (1989 [1970]): 119.

26Ebd.: 123.

27 Ebd.

28 Ebd.: 136.

29Ebd.

30 Von Redecker (2014): 117, 127.

31 Di Cesare (2019).

32 Arendt (1989 [1970]): 137f.

33 Arendt (1994 [1963]): 306.

>> Seite 4 | 4. Über zivilen Ungehorsam als Politik


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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