Ziviler Ungehorsam: Demokratien als riskante Ordnungen

2. Was ist ziviler Ungehorsam?

In der politischen Literatur gibt es viele verschiedene Definitionen des zivilen Ungehorsams. Je nach politischer Grundüberzeugung kann er ganz anders konzipiert und ausgestaltet sein. Trotzdem gibt es Grundlagen, die von fast allen geteilt werden:

  1. Ziviler Ungehorsam meint vorsätzlichen Rechtsbruch, die Übertretung eines Gesetzes. Jürgen Habermas spricht von einer kalkulierten Regelverletzung.7 Es liegt auf der Hand, dass dieser Gesetzesbruch nicht gesetzlich gerechtfertigt werden kann.
  2. Die Rechtfertigung für den Gesetzesbruch ist damit zumeist außerhalb der Rechtsordnung zu finden bzw. in einer anderen Rechtsordnung oder auch in Verfassungsprinzipien. Der zivile Ungehorsam kann dann zum Beispiel auf eine Gesetzesänderung, die Implementierung eines Gesetzes oder auf die Rücknahme eines Gesetzes hinwirken.
  3. Zentral für die Rechtfertigung ist, dass Gehorsamsverweigerung einem Gesetz gilt, das Ungerechtigkeit hervorbringt, dem ein:e Dritte:r zum Opfer fällt.8 Das bedeutet, dass ein Problem vorliegen muss, das über den Interessenkreis der Handelnden hinausgeht.9 Im zivilen Ungehorsam geht es also nicht um egoistische Interessendurchsetzung, sondern um die Adressierung eines allgemeinen politischen Problems, einer Ungerechtigkeit einer ganzen Gruppe. Gesetzesbrüche aufgrund eigennütziger Beweggründe fallen damit nicht unter den Begriff des zivilen Ungehorsams.10
  4. Der Rechtsbruch, die Verweigerung einer Anordnung, die Zuwiderhandlung gegen ein Gesetz finden in der Öffentlichkeit statt. Ziviler Ungehorsam schließt die Konspiration und das Handeln im Geheimen aus.
  5. Dann gilt grundsätzlich, dass die allgemeine Rechtsordnung anerkannt wird. Ziviler Ungehorsam stellt nicht die Existenz und den Sinn der Rechtsordnung infrage.11 Er grenzt sich hier ganz klar vom Widerstand ab, der die gesamte Ordnung überwinden will.
  6. Zentrale Übereinstimmung liegt in der Gewaltlosigkeit des zivilen Ungehorsams. Auch hier kann ein grundlegender Unterschied zum Widerstand gemacht werden, der mit gewalttätigen Aktionen verbunden ist.

Zusammenfassend sei Habermasʼ berühmte Definition des zivilen Ungehorsams zitiert, die er in den 1980er Jahren anlässlich der Kontroverse um die Stationierung der Pershing-Raketen verfasst hat:

„Ziviler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Protest, dem nicht nur private Glaubensüberzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist […]; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im ganzen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen […; die] Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protestes [wird vorausgesetzt].“12

Im Folgenden sollen kurz und idealtypisch zugespitzt Prototypen des zivilen Ungehorsams vorgestellt werden, um die Position Arendts verdeutlichen zu können.


7 Habermas (1985): 81.

8 Laker (1986): 136.

9 Habermas (1985): 83.

10 Laker (1986): 126ff.

11 Habermas (1985): 89.

12 Ebd.: 83f. Kursiv im Original.

>> Seite 3 | 3. Ziviler Ungehorsam in der Demokratie


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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