Gegen die Vereinnahmung zivilen Ungehorsams von rechts – eine ideengeschichtliche Verteidigung

Legitimationsgrundlagen des zivilen Ungehorsams

Wie im letzten Abschnitt ersichtlich wurde, setzt die Idee des zivilen Ungehorsams auf eine Trennung von Legalität und Legitimität. Legitimationsgrundlagen spielen somit eine entscheidende Rolle in der Bewertung von Protest und Widerstand als zivilem Ungehorsam. Anhand der theoretischen Ausführungen im vorhergehenden Abschnitt lassen sich vier Legitimationsgrundlagen feststellen, die im Folgenden anhand weiterer Stimmen erläutert und kritisch beleuchtet werden sollen. Dadurch lassen sich die Grenzen, die dem Konzept inhärent sind, aufzeigen.

Orientierung an universellen moralischen Prinzipien

Nahezu alle Theoretiker:innen, die sich in den letzten Jahrzehnten zum zivilen Ungehorsam geäußert haben, legen ihren Ausführungen zugrunde, dass sich dieser an universellen moralischen Prinzipien orientieren muss. Ohne das Vorliegen eines triftigen Grundes, der sich im Bereich einer allgemeinen universalistischen Moral verorten lässt, wird der zivile Ungehorsam zu einer Regelüberschreitung, deren Legitimationsgrundlage ins Wanken gerät. Was allerdings diese universellen moralischen Prinzipien sein können, wird nur sehr selten explizit ausgeführt.

So stützt sich nach Rawls die Rechtfertigung zivilen Ungehorsams „nicht auf Grundsätze der persönlichen Moral oder auf religiöse Lehren […]. Vielmehr beruft man sich auf die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung, die der politischen Ordnung zugrunde liegt.“14 Ganz im Sinne seiner Gerechtigkeitstheorie muss sich ziviler Ungehorsam in der moralischen Ausrichtung also gegen die Verletzung der Gerechtigkeitsgrundsätze stellen.


Rechtsphilosophisch argumentiert, legitimieren jene Normen Ungehorsam, die ein „verallgemeinerungsfähiges Interesse“ verfolgen – an dieser Stelle nennt Habermas die universellen Menschenrechte.


Habermas greift diese Orientierung an universellen Prinzipien auf. In seinem Verständnis schließt die moralische Begründung von Ungehorsam, wie bei Arendt, reine Einzelinteressen und Glaubensüberzeugungen aus.15 Rechtsphilosophisch argumentiert, legitimieren jene Normen Ungehorsam, die ein „verallgemeinerungsfähiges Interesse“16 verfolgen – an dieser Stelle nennt Habermas die universellen Menschenrechte. Die Einhaltung von Gesetzen bietet also nicht automatisch einen Schutz vor der moralischen Entwurzelung eines Gemeinwesens, hält Habermas fest.17 Vielmehr ist eine kritische politische Kultur notwendig, das heißt die Bürger:innen müssen über Sensibilität sowie Urteilskraft und Risikobereitschaft verfügen, um legale Legitimitätsverletzungen zu erkennen und diese gegebenenfalls anzufechten.

Berücksichtigung von Minderheiten

Étienne Balibar führt ins Feld, dass es in Bezug auf den Widerstand im demokratischen Rechtsstaat immer um eine kommende Gemeinschaft geht, die neu zu erfinden ist, unvollendet bleibt, bestehende Identitäten infrage stellt und die es unter anderem durch Ungehorsam auszuhandeln gilt.18 Ein bereits bestehendes nationales Kollektiv als gegebene Ordnung kann demnach nie allein der Ursprung für politischen Widerstand sein, der eine demokratische Legitimationsgrundlage besitzt.

„Nicht nur ist die Demokratie eine immer wieder neu zu unternehmende Anstrengung, diejenigen in den politischen Raum miteinzubeziehen, die vorher davon ausgeschlossen waren […], sondern man muss auch sagen, dass es in Wirklichkeit keinen Staat gibt, der für sich genommen bzw. allein durch seine institutionelle Form demokratisch wäre.“19

Die demokratische Gesellschaft ist abhängig von einer „Konfrontation mit ihren eigenen Mitgliedern“,20 um die Gemeinschaft und damit Gleichheit und Freiheit für alle Menschen über einen Dissens immer wieder neu zu erkämpfen. Balibar findet dafür den Begriff der Gleichfreiheit und ist sich dabei dem Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit durchaus bewusst.21 Beim Ungehorsam geht es diesen Ausführungen folgend immer um den Kampf für die Rechte einer Minderheit und nicht jene der herrschenden Klasse oder die Interessen der Vertreter:innen der Mehrheitsgesellschaft.


Beim Ungehorsam geht es diesen Ausführungen folgend immer um den Kampf für die Rechte einer Minderheit und nicht jene der herrschenden Klasse oder die Interessen der Vertreter:innen der Mehrheitsgesellschaft.


Einer ähnlichen Argumentation folgt auch Günter Frankenberg. Er sieht die Grenzen des bürgerlichen Rechtsgehorsams dort, wo Entscheidungen getroffen werden, „die entweder gegen den Willen der Minderheit und zu deren Lasten die Verfahrensregeln ändern oder die Offenheit der Entscheidungssituation beseitigen, weil sie irreversibel sind.“22 Ziviler Ungehorsam setzt sich in erster Linie für Minderheitenrechte ein oder für Rechte, die eine bestimmte Gruppe, die nicht die Mehrheitsgesellschaft ist, noch nicht oder nicht mehr besitzt.

Anerkennung der rechtlichen Folgen der Regelverletzung und der Legalität der demokratischen Ordnung

Dem konstitutionellen Modell zufolge stellt ziviler Ungehorsam eine legitime Handlungsform innerhalb des demokratischen Rechtsstaates dar oder anders ausgedrückt besteht er im „Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue“.23

Diese Handlung äußert sich einerseits in der bewussten Gesetzesüberschreitung. Für Frankenberg ist unstrittig, dass ziviler Ungehorsam „grundsätzlich die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Regelverletzung einzustehen“ beinhaltet.24 Den sich anschließenden Prozess und die Annahme der Strafe sieht er als „ein zusätzliches Element der Dramatisierung des Protests“25 und damit als Teil des Ganzen. Die Protestierenden sind sich dieser Regelverletzung und der Hinführung zu einer Strafe bewusst, um die Inszenierung in den zivilen Ungehorsam einzubauen. Diese Bedingung wird zum Teil kritisch hinterfragt. So wird die rechtliche Verfolgung moralisch begründeten Protests wiederum als moralisch zweifelhaft angesehen. Ungehorsame dürften nicht wie Kriminelle behandelt und verfolgt werden.26

Ein weiterer Aspekt ist die grundlegende Vereinbarkeit mit der Verfassungsordnung. Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich nach Auffassung von Ronald Dworkin von politischer Kriminalität, Egoismus oder Bürgerkrieg gerade dadurch, dass die grundlegenden Werte und die Verfasstheit der politischen Ordnung von den ungehorsam Handelnden nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Protestierende erkennen die Regierung und Gemeinschaft grundsätzlich als legitim an, „sie wollen gerade ihre Pflicht als Bürger erfüllen, anstatt sich ihr zu entziehen“.27

Symbolischer Protest mit normativer Begrenzung der Protestmittel

Das Prinzip der Gewaltlosigkeit wird als ein wichtiges – wenn nicht sogar das wichtigste – Element des zivilen Ungehorsams betont, sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch in den theoretischen Ausführungen zum Thema. Der Protest wirkt auf einer symbolischen Ebene und bedient sich folglich gewaltfreier Mittel.

Hannah Arendt sieht in dem Gewaltverzicht ein wichtiges Wesensmerkmal von zivilem Ungehorsam, das diesen von anderen Formen politischen Handelns wie der Revolution abgrenzt. Doch erkennt sie die Schwierigkeit in der Unterscheidung, was Gewaltverzicht umfasst und was nicht.

Celikates sieht das Problem bei der Legitimation von Protest durch Gewaltlosigkeit darin, dass der Gewaltbegriff unterschiedlichen sozialen, politischen und legalen Definitionen unterliegt und daher nur wenig Aussagekraft besitzt.28 Ziviler Ungehorsam und Gewalt stehen in einem sehr komplexen und ambivalenten Verhältnis zueinander. Damit Handlungen des zivilen Ungehorsams nicht nur als reine Appelle bleiben und deren Wirkung allein von der Aufgeschlossenheit des demokratischen Systems abhängt, ersetzt Celikates das Kriterium der Gewaltlosigkeit durch „Momente der realen Konfrontation“.29 Nur durch diese kann sich die eigentliche symbolische Wirkung entfalten.


Celikates sieht das Problem bei der Legitimation von Protest durch Gewaltlosigkeit darin, dass der Gewaltbegriff unterschiedlichen sozialen, politischen und legalen Definitionen unterliegt und daher nur wenig Aussagekraft besitzt.



14Rawls (2017 [1971]): 111.

15Habermas (1983): 35ff.

16Ebd.: 36.

17Ebd.: 39.

18Balibar (2012): 245ff.

19Ebd.: 242.

20Ebd.: 236.

21Balibar (2011): 279ff.

22Frankenberg (1984): 274.

23Rawls (2017 [1971]): 112.

24Frankenberg (1984): 268.

25Ebd.: 269.

26Brownlee (2015).

27Dworkin (2017 [1983]): 257.

28Celikates (2016): 42.

29Ebd.: 43.

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Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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