Ziviler Ungehorsam: Demokratien als riskante Ordnungen

Julia Schulze Wessel

„Wenn die erste Frau, die von Gott je geschaffen wurde, ganz allein das Oberste der Welt nach unten kehren konnte, dann dürfte es diesen Frauen gemeinsam wohl noch gelingen, die Welt wieder gerade zu rücken. Und jetzt sind sie da, um dies zu tun und die Männer tun gut daran, sie gewähren zu lassen.“1

In ihrer Rede ruft Soujourner Truth als ehemalige Sklavin auf der Womenʼs Convention in Akron, Ohio die versammelten Frauen zum gemeinsamen Handeln auf. Es ist ein Frontalangriff auf tradierte Selbstverständlichkeiten. Ein Angriff auf die Grenzziehung zwischen Herrschaftsausübenden und Herrschaftsunterworfenen, auf die Aufteilung der Gesellschaft in diejenigen, die ihre Welt gestalten können und diejenigen, die daraus ausgeschlossen sind, kurz: ein Angriff auf die Unterscheidung zwischen denen, die als politische Subjekte gelten und denen, die andere Räume jenseits von Politik bevölkern oder denen dieser Platz zugewiesen wurde.


Insofern kann politisches Handeln auch als Form einer Grenzüberschreitung verstanden werden.


Was Soujourner Truth hier unternimmt, ist die Unterbrechung der Tradition, die Konterkarierung eines tradierten Politikbegriffs, der auf Exklusion gegründet war. Diese Unterbrechung als den Ursprung und Ausgangspunkt von Politik zu verstehen, ist in der politischen Ideengeschichte vor allem mit einem Namen verbunden: Hannah Arendt. Neubeginn und das Unterbrechen von Routine zeichnen bei ihr das politischen Handeln aus. Ganz in diesem Sinne ruft Truth zur Veränderung der Welt und zur Infragestellung etablierter Vorstellungen von Politik und politischen Subjekten. Sie stellt bereits mit ihrem Auftritt „die Welt auf den Kopf“, indem sie die Grenzen überschreitet, die bislang gezogen waren und für viele als selbstverständlich galten. Insofern kann politisches Handeln auch als Form einer Grenzüberschreitung verstanden werden, was an Arendts Überlegungen zum zivilen Ungehorsam deutlich gemacht werden soll. Um die Frage zu diskutieren, warum der Gehorsam apolitisch, der Ungehorsam jedoch als der Politik zugehörig gedacht werden kann, werde ich im ersten Teil das Verhältnis von Gehorsam und Politik untersuchen. Der zweite Abschnitt führt in den Begriff des zivilen Ungehorsams ein. Im dritten Teil wird die Frage des Ungehorsams in Demokratien zentral verhandelt. Im letzten Teil soll dann mit Hannah Arendt nach einem Ersatz für den Gehorsamsbegriff gesucht werden. Denn ohne eine Form der Befolgung von Gesetzen und Regeln würden Demokratien zu völlig instabilen Gebilden werden.

1. Über Gehorsam in der Politik

Hannah Arendt setzt sich in vollkommen unterschiedlichen Zusammenhängen mit Fragen des Gehorsams wie des Ungehorsams auseinander. Zugespitzt lässt sich sagen, dass der Gehorsam das Politische auf allen Ebenen verneint, während der zivile Ungehorsam zentrale Charakteristika ihres Politikbegriffs verkörpert. Mit Gehorsam lässt sich also keine Politik machen oder, anders ausgedrückt: Keine Politik lässt sich ohne Ungehorsam denken. Das scheint zunächst einmal eine Provokation vor allem aus juristischer Perspektive zu sein. Denn wir müssen doch ganz offensichtlich Gesetzen gehorchen, Anweisungen befolgen und uns bestimmten Regeln des Zusammenlebens unterwerfen. Außerdem ist Stabilität einer Gesellschaft ohne Gehorsam gegenüber den allgemeinen Regeln des Zusammenlebens kaum denkbar. Warum also schließt Arendt Gehorsam aus dem Raum des Politischen aus und warum ist der zivile Ungehorsam mit Politik in Demokratien vereinbar? Um die Frage zu klären, müssen wir zunächst näher auf den Begriff des Gehorsams blicken.


Mit Gehorsam lässt sich also keine Politik machen oder, anders ausgedrückt: Keine Politik lässt sich ohne Ungehorsam denken.


Im Kontext der Auseinandersetzung um ihr Buch „Eichmann in Jerusalem“2 setzt sich Arendt mit dem Begriffspaar von Befehl und Gehorsam auseinander. Wie viele andere angeklagte Nationalsozialist:innen versuchte auch Eichmann, sich der Verantwortung zu entziehen, indem er auf die Befehle verwies, denen er doch zu gehorchen gehabt habe. Er sei nichts weiter als ein Befehlsempfänger gewesen. Das nimmt Arendt zum Anlass, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was Verantwortung unter den Bedingungen einer totalitären Herrschaft bedeutet. Sie beharrt darauf, dass alle für ihre Taten verantwortlich sind, selbst unter totalitären Bedingungen, und zieht daraus den Schluss: „Es wäre viel gewonnen, wenn wir das bösartige Wort ‚Gehorsam‘ aus dem Vokabular unseres moralischen und politischen Denkens streichen könnten.“3 Arendt bezieht sich hier nicht mehr nur auf die totale Herrschaft, sondern verweist auf Politik insgesamt. Für sie ist also der Begriff des Gehorsams ebenso falsch für nichttotalitäre, für freie Gesellschaften. Dafür lassen sich mehrere Gründe finden:

Der Gehorsam ist erstens dem Versprechen der Gleichheit entgegengesetzt. Arendt denkt Politik hierarchiefrei. Die wechselseitige Anerkennung als Gleiche ist für sie Voraussetzung, dass überhaupt politisch gehandelt werden kann. Freiheit, bei Arendt der Sinn von Politik, ist nur unter Gleichen möglich. In einem hierarchischen, die Ungleichheit betonenden Befehl-Gehorsam-Verhältnis sind weder die Befehlsgeber:innen noch diejenigen, die die Befehle ausführen, frei.


Auch gehört zur Pluralität, der Verschiedenheit der Menschen, dass es immer mindestens zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand gibt, dass die Welt auch ganz neu betrachtet werden kann, dass alles anders sein könnte, als es eingerichtet ist.


Gehorsam widerspricht zweitens Arendts grundlegender Überzeugung über das „Faktum der Pluralität“.4 Denn der Gehorsam schaltet die Alternativen aus. Im Gehorsam gibt es nur einen Weg und er leugnet, zumindest im Moment des Gehorsams, dass auch ein anderer Weg beschritten werden könnte. Auch gehört zur Pluralität, der Verschiedenheit der Menschen, dass es immer mindestens zwei unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand gibt, dass die Welt auch ganz neu betrachtet werden kann, dass alles anders sein könnte, als es eingerichtet ist: „Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“5 Der Gehorsam jedoch lässt die Welt, so wie sie ist, weil er nichts infrage stellt.

Drittens leugnet der Gehorsam die eigene Urteilsfähigkeit. Die Aussage Eichmanns „Ich habe nur Befehlen gehorcht“ steht prototypisch für eine Welt, in der es kein „es ist auch anderes möglich“ mehr gibt. Im Gehorsam ist das Moment des Innehaltens und der Reflexion verschwunden.

Mit der Leugnung der eigenen Urteilsfähigkeit geht viertens die Abgabe von Verantwortung einher. In einem Befehl-Gehorsam-Verhältnis liegt die Verantwortung bei demjenigen, der die Befehle gibt und nicht bei dem, der gehorcht. Zumindest sah Arendt diese Konsequenz in der Verteidigung Eichmanns. Die Verantwortung für die Entscheidung wird an die Befehlsgeber:innen abgegeben.

In all diesen Punkten wird deutlich, dass es um einen zentralen Begriff geht, der mit dem Gehorsam absolut unvereinbar ist: die menschliche Freiheit. Die besonderen Bedingungen der totalen Herrschaft leugnet Arendt nicht: „Die Angeklagten in den Kriegsverbrecherprozessen handelten unter Verhältnissen, in denen jede moralische Tat ungesetzlich und jede rechtmäßige Handlung ein Verbrechen war.“6 Wenn die ganze Umgebung entschieden hat, nach einem bestimmten Gebot zu leben, wie schaffe ich es dann, mich dagegen zu entscheiden? Arendts Beharren auf der Fähigkeit des Menschen, zu allen Zeiten und auch unter den Bedingungen der totalen Herrschaft das Böse zu erkennen und sich dagegen zu entscheiden und nicht mitzumachen, begründet bei ihr die menschliche Freiheit. Es ist für sie also möglich, immer und überall, auch wenn alle in ihrer Meinung von meiner Meinung abweichen, mich dagegen zu entscheiden. Über Freiheit können wir nur sprechen, wenn etwas anders sein kann als das Gegebene, wenn Irritation zugelassen wird, ein Innehalten möglich ist. Freiheit eröffnet sich mit den Alternativen, mit den neuen, unbekannten Perspektiven und dem Unterbrechen von Routine.


Freiheit eröffnet sich mit den Alternativen, mit den neuen, unbekannten Perspektiven und dem Unterbrechen von Routine.


Freiheit scheint also zunächst der zentrale Gegenbegriff zum Gehorsam zu sein. Allerdings sind wir damit noch nicht viel weiter gekommen. Denn, um es paradox zu formulieren: Gehorchen zu dürfen, müsste dann auch im Freiheitsbegriff enthalten sein. Darüber hinaus bleibt auch die Frage offen, ob wir nicht den Gesetzen im demokratischen Rechtsstaat Folge leisten müssen. Und trotzdem würde Arendt den Gehorsamsbegriff als apolitisch und der Freiheit entgegengesetzt bezeichnen.

Im Folgenden nähern wir uns diesen Fragen von der anderen Seite her: Wenn Gehorsam aus der Politik gestrichen wird, wird dann umgekehrt Ungehorsam zur Pflicht?


1Rede von Soujourner Truth, zitiert nach Davis (1982): 62.

2Arendt (1964).

3Arendt (1989 [1964]): 97.

4Arendt (1981 [1967]): 17.

5Ebd.

6Arendt (1989 [1964]): 89.

>> Seite 2 | 2. Was ist ziviler Ungehorsam?


Aus der Publikation „Politisch Handeln im autoritären Sog“

2020 | Weiterdenken – Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, Kulturbüro Sachsen und Netzwerk Tolerantes Sachsen | Förderhinweis | ISBN / DOI 978-3-946541-39-4 | CC-BY-NC-ND 3.0

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Redaktion TolSax

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