Offener Brief aus dem Bereich Flucht und Migration

Autor_innen: Willkommensbündnis Görlitz

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Ursu,
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Hummel,
Sehr geehrter Herr Landrat Dr. Meyer,

mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine seit März 2022 sind tausende Schutzsuchende nach Görlitz
gekommen. Reell und medial galt Görlitz als Drehkreuz für ukrainische Vertriebene. Es entstand ein
großes Hilfs- und Solidaritätsnetzwerk, welches über die Erstversorgung hinausging und zu großen
Teilen von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern initiiert wurde und noch wird. In den vergangenen
Monaten haben wir festgestellt, dass die behördlichen Strukturen an ihre Grenzen gelangten was die
Registrierung, Versorgung und Vermittlung der geflüchteten Menschen betraf. Es entstanden wochen-
und monatelange Wartezeiten auf Anerkennungs- und Leistungsbescheide sowie auf finanzielle
Zuwendungen. Eine Kommunikation mit der Ausländerbehörde, dem Jobcenter sowie der
Bundesagentur für Arbeit ist für Helfende und Betroffene nur sehr erschwert möglich, da die dortige
Erreichbarkeit aufgrund des hohen Arbeitsaufkommens eingeschränkt ist. Für die geflüchteten
Menschen hat das schwerwiegende Konsequenzen, da sie ihren Lebensunterhalt nicht sichern können.


Kein Zugang zu integrativen Maßnahmen


Die Stadt Görlitz hat erhebliche Probleme im Bereich der Integration zu verzeichnen. Es fehlt an einer
Integrationsstruktur, welche u.a. den schnellen Zugang zu Gesundheitsleistungen, Unterbringungen
und Wohnungen, Sprachförderung, Bildung (Kita, Schule, Berufsschule, Studium), Ausbildung und
Arbeitsmarkt sowie Freizeitangeboten ermöglicht. Zum Beispiel bestehen aktuelle Wartelisten von
über 100 Personen je trägerbezogenem Sprachkursangebot in Görlitz. Die Eröffnung eines Basiskontos
bei der Sparkasse ist momentan nicht möglich, da Termine erst wieder im März 2023 vergeben werden.
Das verstößt gegen geltendes EU-Recht. Ebenso sind keine Termine bei der Agentur für Arbeit buchbar,
was die Ausstellung eines Berechtigungsscheines für Berufssprachkurse verhindert. Weiterhin ist keine
medizinische Grundversorgung in Görlitz gewährleistet. Es ist kaum noch möglich Termine bei
Ärztinnen und Ärzten zu erhalten, da sich das Versorgungsnetz immer weiter ausdünnt. Impftermine
für Kinder, welche eine Masernschutzimpfung für den Besuch von Kita und Schule benötigen, haben
Wartezeiten über Wochen und Monate. Dadurch wird eine Integration in Bildungsstrukturen für junge
Menschen verwehrt.

Keine erforderlichen hauptamtlichen Strukturen

Es existieren zu wenige hauptamtliche Verantwortliche, die sich um die Belange der vielen
geflüchteten Menschen in Görlitz kümmern. Das betrifft neben den Vertriebenen aus der Ukraine auch
andere Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund, die nun ebenfalls auf überlastete
Strukturen stoßen und keine schnelle und unbürokratische Hilfe erhalten. Wenngleich die formale
Zuständigkeit beim Landkreis Görlitz liegt, ist es zwingend erforderlich, dass geflüchtete Menschen
verlässliche Strukturen in der Stadt in der sie leben vorfinden, um sich informieren zu können. Aktuell
wird das fast ausschließlich über zivilgesellschaftliches Engagement realisiert. Die
Migrationsberatungsstellen (MBE) von Caritas und DRK haben ein sehr hohes Arbeitsaufkommen und
können nicht alle Menschen wie gewünscht passgenau unterstützen. Zudem sind die MBE nur für
Menschen mit dauerhaften Aufenthaltsrecht oder einer Anerkennung zugänglich. Aus diesen Gründen
suchen geflüchtete oder vertriebene Menschen vermehrt Hilfe innerhalb der ehrenamtlichen
Strukturen.

Keine transparente Kommunikation

Die Beobachtung der weiterhin angespannten politischen Lage in der Ukraine, die Belarus-Krise sowie
das humanitäre Abkommen mit Afghanistan bis 2025 lässt darauf schließen, dass weitere Menschen
nach Görlitz flüchten bzw. zugeteilt werden. Der Landkreis Görlitz gibt keine detaillierte Auskunft über
Zuwanderungszahlen bzw. Schlüsselzuweisungen und wie diese Menschen versorgt werden sollen. Es
ist unklar, wo Unterbringungsmöglichkeiten entstehen und wer diese fachlich betreut. Ein
Informationssystem in die Öffentlichkeit existiert seitens des Landkreises hierzu nicht. Strukturen, die
hierfür vorgesehen waren, sind die Steuerungsgruppe und die hauptamtlichen Netzwerktreffen. Die
Steuerungsgruppe wurde die vergangenen zwei Jahre nicht einberufen. Das Netzwerktreffen fand nur
sehr sporadisch statt, da die für die Organisation zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter u.a. in
das Gesundheitsamt und später an die Ukraine-Hotline abgeordnet wurden. Hinzukommt, dass die
kommunale Arbeitsgruppe „Integration und Asyl“ ihre Arbeit bisher nicht aufgenommen hat. Die
einzige Schnittstelle in die Stadtverwaltung Görlitz stellt aktuell die Gleichstellungsbeauftragte dar.

Keine tragfähige Vereinsstruktur

Die Unterstützungskreise für Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung sind am Limit ihrer
Kapazitäten. Die Unterstützungskreise für Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung sind am
Limit ihrer Kapazitäten. Aus mangelnder finanzieller Absicherung mussten zum 01.01.2022 drei
wichtige Treffpunkte für geflüchtete Menschen schließen bzw. das Angebot reduzieren. Hierzu zählt
das Projekt „Frauen.Gestalten.Welten“ des Second Attempt e.V. (Verkürzung Öffnungszeiten und
Reduzierung der Beratungstätigkeit auf Verweisberatung) sowie der „Ukraine-Treff“ auf der
Jakobstraße (Schließung) und das Café Maqha des Second Attempt e.V. (Schließung). Es existieren
keine weiteren Vereine in Görlitz, die sich im Hauptamt mit ausgebildeten Fachkräften auf Migrations-
und Integrationsarbeit konzentrieren. Das liegt u.a. daran, dass die bestehenden Vereine mit ihren
originären Aufgaben ausgelastet sind. Demnach wird die aktuelle Versorgung, Beratung, Betreuung
und Integration vermehrt durch ehrenamtliche Strukturen bewältigt. Darüber hinaus verfügt Görlitz
über keine Flüchtlingssozialarbeit mit pädagogischen Fachkräften oder einer ausgebildeten
Integrationsbegleitung. Die existierenden behördlichen Stellen bieten wie aufgezeigt nur eine sehr
marginale Entlastung. Zum Beispiel werden Termine nur nach vorheriger schriftlicher Beantragung per
E-Mail gewährt. Hierbei ist die Amtssprache Deutsch, was den Zugang erheblich erschwert. Für
Dolmetscherleistungen ist in vielen Fällen kein Budget vorhanden und der vermittelnde
Sprachendienst von Ehrenamtlichen in Reichenbach, ist stark ausgelastet bzw. überlastet.

Positive Beispiele

Besonders während der Hilfeleistungen für die vertriebenen Menschen aus der Ukraine konnten
positive Bemühungen seitens der Behörden verzeichnet werden. Hieran gilt es anzuknüpfen und
diese dauerhaft vorzuhalten. Dazu zählen:

– Vorhalten von Formularen in Landessprache
– leichter Zugang zu medizinischen Leistungen durch vereinfachte Abrechnungsverfahren
– kulturelle Hinweise auf der Homepage der Stadt und des Landkreises in Landessprache
– öffentliche Bekanntmachung von Sprach- und Integrationskursen
– Meldung von freien Kita- und Schulplätzen

Zudem haben andere Kommunen Strategien entwickelt, um sich aktiv an der Integrationsarbeit zu
beteiligen. Hierzu zählen u.a. kommunale Integrationsbeiräte und kommunale Flüchtlingsdialoge
sowie eine interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Darüber hinaus haben sich zentrale
Schnittstellenbüros, in welchen sowohl gebündelte Informationen als auch Weitervermittlung
bereitgestellt werden, anderenorts etabliert.

Unsere Handlungsaufforderung

Die jetzigen Gegebenheiten der Stadt Görlitz erfüllen uns mit Sorge. Aktuell erhalten Flüchtlinge in
unserer Stadt nur eine unzureichende Unterstützung. Integrationsmaßnahmen reichen nicht aus oder
finden nicht statt, da keine entsprechende Organisation innerhalb der behördlichen Strukturen
vorhanden ist. Auch existiert keine migrationssensible hauptamtliche Anlaufstelle, die zentralisierte
Information und Unterstützung vorhält. Dies kann die Entstehung von sozialen Brennpunkten fördern
und isoliert geflüchtete Menschen von der Zivilgesellschaft. Das verhindert aktiv Integration. Ohne die
ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer gäbe es für viele Geflüchtete keine Beratung sowie keine
erweiterten sprachlichen oder kulturellen Angebote. Die Stadt Görlitz handelt grob fahrlässig, wenn
sie die Strukturen nicht an die vorhandenen Bedarfe anpasst und sich auf das Ehrenamt verlässt.
Wir als Vereine, Verbände und Ehrenamtliche der Migrationsarbeit für die Stadt Görlitz haben uns
zusammengeschlossen, um eine Stärkung der Unterstützungs- und Hilfeleistungen für alle
Migrationsgruppen in Görlitz zu bewirken. In diesem offenen Brief sind nachstehend Beispiele für
umfassende Unterstützungs- und Hilfeleistungen zusammengetragen, welche Personen mit
Migrationshintergrund den Integrationsprozess in unsere Stadt erleichtern können. Ziel ist es, ein
gerechtes und solidarisches System der Aufteilung der Verantwortlichkeit für alle Vertriebenen,
Geflüchteten und Migrant:innen unabhängig ihrer Herkunft in der Stadt Görlitz zu etablieren. Dazu
bedarf es:

Politisches Statement:

– öffentliche Bekanntgabe zum Umgang mit Migration und Integration in Görlitz
– öffentliche Bekanntgabe zur Vorhaltung von Versorgungsstrukturen
– Umsetzung, Fortschreibung, Evaluation des verabschiedeten Integrationskonzeptes

Sprachangebote:

– Ausbau von Sprachkursen mit vereinfachtem Zugang
– Ausbau der BAMF zertifizierten Kurse sowie entsprechendes Lehrpersonal
– Aufbau eines vergleichbaren Angebotes für die Menschen, die über der Altersgrenze für
Sprachkurse liegen

Kita- und Schulangebote:

– Bekanntgabe von freien Kindergartenplätzen und schnelle Vermittlung
– Bekanntgabe von freien Schulplätzen sowie Schaffen von mehr DAZ-Klassen
– Schulungen interkultureller Kompetenzen von pädagogischem Personal und Lehrkräften

Ausbildungs- und Arbeitsmarktzugänge:

– Überblick über Arbeitsmarktzugänge
– einfacher Zugang für Asylbewerber:innen zu Praktikumsplätzen (auch in der Verwaltung)
– transparente und öffentliche Zusammenarbeit mit Unternehmen in Görlitz

Gesundheitsversorgung:

– Überblick zu Ärztinnen und Ärzten, Gesundheitszentren etc.
– schneller und unbürokratischer Zugang zu gesundheitlicher Versorgung
– Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten psychischer und chronischer Erkrankungen und
notwendigen Vorsorgeuntersuchungen

Schaffen von hauptamtlichen Stellen:

– Aufstockung der personellen Kapazitäten in der Stadtverwaltung um 1,0 VZÄ zur
Koordinierung von Unterstützungsmaßnahmen und zur Antragsstellung von Projekten
– Einführung eines transparenten Schnittstellenmanagements von Kommune und Landkreis
mit regelmäßigen Berichten in öffentlichen Gremien
– Verzahnung von vorhandenen Stellen aus den Bereichen Prävention, Gleichstellung,
Bürgerräten, Familien und Senioren
– Einführung eines regelmäßigen und öffentlichen Berichtswesens zur Umsetzung des

Integrationskonzeptes der Stadt Görlitz von 2018

Uns ist bekannt, dass die organisatorische Hauptverantwortung für Menschen mit Flucht- und
Migrationshintergrund beim Landkreis liegt. Dennoch haben viele dieser Menschen ihren Wohnsitz in
der Stadt Görlitz und können nicht dauerhaft mit dem Vermerk der fehlenden Zuständigkeit mit ihren
Anliegen abgewiesen werden. Daher sehen wir es in der Verantwortung des Oberbürgermeisters und
des Bürgermeisters, mit dem Landkreis zusammenzuarbeiten und hier das Vorhandensein von
geeigneten Hilfestrukturen zu verhandeln. Landkreisseitig ist für eine entsprechende personelle
Besetzung der dortigen Ämter und Sachgebiete zu sorgen, um entsprechend die Aufgaben
wahrzunehmen. Wir möchten Sie daher dringend auffordern, eine nachhaltige Aufbau- und
Ablaufstruktur zur Asyl- und Integrationsarbeit in der Stadt Görlitz in Zusammenarbeit mit dem
Landkreis zu schaffen.

Die genannten Punkte sind von den Mitgliedern des Willkommensbündnis Görlitz konsensfähig. Eine
Liste der beteiligten Organisationen und Ehrenamtlichen befindet sich im Anhang. Wir erwarten eine
öffentliche Diskussion und Stellungnahme binnen vier Wochen nach Eingang des offenen Briefes.

Görlitz, 12.01.2023

im Auftrag Katja Knauthe
Gleichstellungsbeauftragte Stadt Görlitz |
Koordinatorin Willkommensbündnis Görlitz

Unterzeichner:innen des offenen Briefes

1. Assalam Verein, Muslim-Zentrum Görlitz
2. Ca-Tee-Drale e.V.
3. Caritas & Kulturverein „Offener Dialog“
4. Barschdorf, Günter (privates Ehrenamt)
5. Begegnungstreff Vis á Vis
6. Degenhart, Horst (privates Ehrenamt)
7. DRK Migrationsberatung und Flüchtlingssozialarbeit
8. Caritas Migrationsberatung
9. Carstensens, Anja-Christina (Bündnis90/Die Grünen)
10. CVJM Görlitz
11. Donner & Partner GmbH Bildungszentren
12. Einer für alle e.V.
13. Esta e.V.
14. Familienbüro Görlitz, Görlitz für Familie e.V.
15. Haus und Hof e.V.
16. Helpline Ostsachsen, RAA Sachsen e.V.
17. Jeschke, Kerstin (privates Ehrenamt)
18. Knoblich, Manuela (privates Ehrenamt)
19. Kulturbrücken e.V.
20. Lay, Katrin (privates Ehrenamt)
21. Lebenshof gGmbH
22. Lebensschule, Advent-Wohlfahrtswerk e.V.
23. Marion Seifert (privates Ehrenamt)
24. Nestor Bildungsinstitut GmbH
25. Partnerschaft für Demokratie (PfD) Landkreis Görlitz
26. Phillip, Knürr (privates Ehrenamt)
27. Theaterpädagogik Gerhart-Hauptmann-Theater
28. Trauboth, Anne (privates Ehrenamt)
29. Trauboth, Joachim (psychologische Beratung für Ukrainer:innen)
30. Tierra eine Welt e.V.
31. Second Attempt e.V.

Weitere Informationen hier

Offener Brief zum Download als PDF hier

Redaktion TolSax

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