Staatsversagen mit Ansage – Was am 7. 11. 2020 in Leipzig schief gegangen ist

Autor_innen: Harald Lamprecht für AG Kirche für Demokratie und Menschenrechte

Der 7. November 2020 hatte drei Schlagzeilen: 

  1. In den USA hat Joe Biden die Wahl für sich entschieden.
  2. In Deutschland hat die Corona-Infektionsrate einen neuen Rekordwert erreicht.
  3. In Leipzig haben rund 20 000 Coronaleugner, vermischt mit einer großen Menge von dem, was Deutschland an verschiedenen Neonazi-Gruppen zu bieten hat, das Versagen der Exekutive demonstriert.

Nun gibt es vielerorts notwendige Debatten um die Aufarbeitung des Geschehens. Weil aus verschiedenen Perspektiven unterschiedliche Narrative des Geschehens entstehen, ist es wichtig, einige grundlegende Dinge in Erinnerung zu rufen.

Gewaltenteilung

Zu den Grundpfeilern der Demokratie gehört die Gewaltenteilung. Die Legislative (Parlament) macht die Gesetze. Die Exekutive (Regierung, Stadtverwaltung, Versammlungsbehörde, Polizei) hat diese ohne Ansehen der Person um- und durchzusetzen. Sie ist dabei in ihrem Handeln ebenfalls an die Gesetze gebunden. Die Judikative (Gerichte) wachen über die Einhaltung der Gesetze und klären Streitfragen bei der Anwendung der Gesetze. Das Gewaltmonopol liegt bei der Exekutive. Sie befehligt z.B. die Polizei. Darum sind aber notwendig Legislative wie auch Judikative von ihr streng getrennt und unabhängig. Dieses System ist austariert und wichtig, um Missbrauch von Macht einzudämmen und möglichst zu verhindern. Das gilt auch und insbesondere, wenn die dadurch entstehenden Abläufe mitunter kompliziert erscheinen. 

Versammlungsrecht

Das Versammlungsrecht ist gemäß Grundgesetz ein sehr hohes Rechtsgut, weil es für das Funktionieren der Demokratie wichtig ist. Es muss den Bürgerinnen und Bürgern möglich sein, am politischen Meinungsbildungsprozess auf diese Weise mitzuwirken. Deshalb müssen Versammlungen nicht „genehmigt“ werden, sonder sind lediglich „anzuzeigen“, damit die Exekutive ihren möglichst reibungsfreien Ablauf sicherstellen kann. Auch den Ort der Versammlung bestimmen die Anmelder selbst. Der Verwaltung ist es lediglich erlaubt, bestimmte Auflagen zu machen, die für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erforderlich sind. Zu solchen Auflagen gehört z.B. die Benennung einer bestimmtem Anzahl von Ordnern, mitunter ein Alkoholverbot, Begrenzung von Kundgebungsmitteln (Länge von Fahnenstangen, Fackeln) usw. Wenn es mehrere angemeldete Versammlungen gibt, muss sich die Versammlungsbehörde um einen Ausgleich bemühen, der möglichst jeder angemeldeten Versammlung gleiches Recht verschafft. Dies oder Erwägungen zur Sicherheit und Ordnung kann dazu führen, dass ein anderer Ort beauflagt wird, als vom Anmelder erwünscht. Allerdings ist der Spielraum der Versammlungsbehörde da sehr klein und die Hürden liegen hoch. Die Verwaltungsgerichte legen (zu Recht) den Verwaltungen hohe Hürden an, damit diese nicht aus Bequemlichkeit und um Kosten zu sparen oder weil ihnen die Inhalte nicht passen, bestimmte Versammlungen mit ungerechtfertigten Auflagen belegen. Dass Verwaltungsgerichte die Entscheidungen von Versammlungsbehörden kassieren und abändern ist kein ganz seltener Vorgang. Ein Verbot einer Versammlung durch die Exekutive ist ein sehr seltener Ausnahmefall. In vielen Fällen wird dies von den Verwaltungsgerichten gekippt, wenn die Anmelder dagegen klagen. Voraussetzung könnte z.B. ein polizeilicher Notstand sein, wenn die Sicherheit der Versammlungsteilnehmer oder anderer Bürgerinnen und Bürger nicht gewährleistet werden kann, z.B. weil zu viele Veranstaltungen parallel stattfinden und alle Kräfte gebunden sind. Da in solchen Fällen Einsatzkräfte aus anderen Bundesländern herangezogen werden müssen, ist das nur sehr selten stichhaltig zu begründen. All diese Rechtsgrundlagen sind grundsätzlich unabhängig vom Inhalt der angemeldeten Demonstrationen, soweit sie einen Beitrag zur politischen Willensbildung leisten (und z.B. nicht kommerzieller Natur sind). Auch scharfe Kritik am Staat ist erlaubt. Auch Dummheit und Ignoranz sind von der Verfassung geschützt. Die Verbreitung von Unsinn bringt das Demonstrationsrecht nicht automatisch zum Erlöschen. Andernfalls bräuchte ein totalitärer Staat lediglich missliebige Positionen als „dumm“ und „unsinnig“ zu erklären, um Kritik zu unterbinden.

Leipzig am 7. November 2020

Was bedeuten diese Grundsätze in Anwendung auf das Versammlungsgeschehen am 7. November 2020 in Leipzig?

  1. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen ergeben sich einerseits aus dem allgemeinen Versammlungsrecht wie oben skizziert und zudem aus der seit 2.11.2020 geltenden sächsichen Corona-Schutzverordnung. Diese erlaubt Versammlungen, allerdings nur bei durchgängigem Tragen von MNS und als ortsfeste Kundgebung, nicht als beweglichen Aufzug (§9 Abs. 2).
  2. Während der erste Welle der Pandemie hatten Verwaltungen verschiedentlich Demonstrationen unter Verweis auf den Infektionsschutz verboten. Die einen haben das akzeptiert (z.B. Gedenken an die Morde in Hanau), die anderen nicht (z.B. Querdenken) und dagegen geklagt und Recht bekommen. Aufgrund dieser Rechtslage und der vorauslaufenden Rechtsprechung, die die Versammlungsfreiheit trotz Pandemie hoch gewichtet hat, hat die Stadt Leipzig die angekündigte Querdenker-Demonstration sowie diverse Gegenveranstaltungen nicht verboten, sondern lediglich mit den üblichen Auflagen versehen: Abstand halten, Mund-Nasen-Schutzbedeckung (MNS) tragen. Wenn die Versammlungsbehörde der Stadt versucht hätte, die Demonstration(en) zu verbieten, wäre dies bei zu erwartender Klage dagegen sicherlich vom Verwaltungsgericht Leipzig aufgehoben worden.
  3. Aufgrund der angemeldeten und zu erwartenden Teilnehmerzahlen von 20 000 Personen hat die Stadt Leipzig lediglich den Aufzugsort aus der Innenstadt an die Messe verlegt, damit unter Einhaltung der Abstandsregeln für alle Teilnehmenden genügend Raum bleibt, um an der Versammlung teilnehmen zu können. Dagegen hatte Querdenken geklagt, aber das Verwaltungsgericht Leipzig in erster Instanz hatte die Auffassung der Stadt Leipzig bestätigt und – sehr gut nachvollziehbar – mit dem Demonstrationsrecht der Teilnehmer argumentiert: Bei Abhaltung in der Innenstadt wären sonst etliche tausend potenzielle Demonstrationsteilnehmer in ihrem Demonstrationsrecht beschnitten, weil der Platz für sie nicht ausgereicht hätte. Diese Entscheidung galt noch am Tag zuvor (Freitag), so dass Querdenken seine Bühne auf dem Augustusplatz abbauen musste, um sie an die Messe zu verlegen. Allerdings hatten die Anmelder die nächste Instanz angerufen.
  4. Das Oberverwaltungsgericht Bautzen hat diese Ortsveränderung kassiert und die Demonstration mit den Auflagen 1. Begrenzung auf 16.000 Personen, 2. Tragen eines MNS und Einhalten der Abstände von 1,5 m zwischen den Personen in der Innenstadt (Augustusplatz) genehmigt. Die Urteilsbegründung dafür steht noch aus und soll ca. 4 Tage später nachgereicht werden. 
  5. Die Exekutive (also z.B. Ministerpräsident Kretschmer, Oberbürgermeister Jung oder seine Mitarbeiter in der Versammlungsbehörde) kann sich über ein solches Urteil vom Oberverwaltungsgericht ärgern, aber sie kann es nicht ändern und sie hat keinen direkten Einfluss auf den Richter. Es würde sofort als unerlaubte Einflussnahme der Politik auf die Justiz gedeutet. Die Polizei muss diese Suppe nun auslöffeln und steht vor einer faktisch unlösbaren Aufgabe: Auflagen durchzusetzen, die in dieser Konstellation unmöglich durchzusetzen sind. 
  6. Weitere Auseinandersetzungen zwischen Stadt Leipzig und Verwaltungsgerichten betrafen Rahmenbedingungen des Events wie Anreise und Unterbringung. Die sächsische Corona-Schutzverordnung verbietet derzeit touristische Reisen und Hotelunterbringung. Ob Demo-Tourismus auch Tourismus ist, wurde vom Sächsischen Staatsministerium zunächst anders beurteilt und Hotelübernachtungen dazu erlaubt, kurz vorher aber umgeschwenkt. Der Versuch der Stadt Leipzig, mit Hilfe der Polizei touristische Busanreisen zu unterbinden, wurde ihr nach Klagen eines rechtsextremen Chemnitzer Stadtrates gerichtlich verboten. 

Das Geschehen im Überblick

Die Ereignisse des Tages können hier nur sehr grob skizziert werden. Am Vorabend gab es bereits eine Demonstration von einigen hundert Coronaleugnern in der Innenstadt, ohne dass die Polizei dort das Tragen von MNS durchgesetzt hätte. Am Samstag sammelten sich am Vormittag auf dem Augustusplatz die Teilnehmenden der Querdenker-Demonstration. Unter sie hatten sich ca. 500 gewaltbereite Neonazis und Hooligans gemischt. An anderen Orten gab es verschiedene Gegendemonstrationen. Nach offizieller Beendigung der Kundgebung wegen Auflagenverstößen kam es z.T. zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Neonazis zündeten Pyrotechnik und schossen damit auf Polizei und Gegendemonstraten. Am Hauptbahnhof durchbrachen die Teilnehmer eine Polizeiabsperrung und zogen dann ohne weitere Behinderung durch die Polizei als großer Demonstrationszug über den Innenstadtring. Noch bis in die Nacht hinein wurde auf den Straßen z.T. ausgelassen der Sieg über die Polizei gefeiert. 

Weitgehend unabhängig davon war ein zweites Geschehen im Stadtteil Connewitz. Dort hatte es am Vorabend Auseinandersetzungen  mit der Polizei gegeben, als eine linke Aktivistin verhaftet wurde. Von den am Samstag nach Leipzig angereisten Neonazis waren in den sozialen Medien etliche Bedrohungen gegen die linke Szene in Connewitz aufgetaucht. Weil die Bewohnern der linken Wohnprojekte in Connewitz kein Vertrauen in einen Schutz durch die Polizei hatten, organisierten diese ihre Verteidigung selbst, was am Abend zu weiteren Auseinandersetzungen mit der Polizei führte. Auch wenn es nicht vollkommen zu trennen ist, sollte das Geschehen in Connewitz nicht mit den Ereignissen um die Querdenken-Demo vermengt werden.

Polizeieinsatz

Zunächst ist festzuhalten, dass die vielen Beamtinnen und Beamten, die auch in Leipzig an diesem Samstag versucht haben, Recht und Gesetz Geltung zu verschaffen, Respekt und Anerkennung verdienen. Aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen einerseits und aufgrund von einsatztaktischen Entscheidungen der Polizeiführung andererseits ist dies allerdings in der Gesamtbilanz in weiten Teilen nicht gelungen. 

Eine oberflächliche Sicht könnte suggerieren, es sei doch noch ganz gut gelaufen. Der Tag war überwiegend friedlich, keine Tote, wenige Verletzte, alle Veranstaltungen konnten stattfinden. Der Leiter der Polizeidirektion Leipzig Torsten Schultze resümierte in einer Video-Stellungnahme in diesem Sinn, zwei der drei Ziele („friedlicher Verlauf aller Veranstaltungen“ und „Verhinderung möglicher Gewalttaten“) habe man weitgehend erreicht, nur beim dritten Ziel (Infektionsschutz durchsetzen) sei man gescheitert, aber der Einsatz von Gewalt gegen Demonstranten wäre unverhältnismäßig gewesen und darum unterblieben. 

Dieses Resumé ist eine absolut verkürzte Binnensicht. In der Gesamtbilanz und der Außenwahrnehmung sieht es völlig anders aus. Da muss man sagen: 

Der Staat konnte seinen wichtigsten Grundsatz „Gleiches Recht für alle“ nicht durchsetzen. 

  1. Die Polizei ist gescheitert, und zwar auf nahezu ganzer Linie, denn keine der drei genannten und vom OVG vorausgesetzten Demonstrationsauflagen konnte durchgesetzt werden: weder Masken, noch Abstände, noch eine ortsfeste Kundgebung.
  2. Die Zahl der Verletzten ist bedeutend höher. Im Grunde müssen alle Personen mitgezählt werden, die sich auf der Demo infiziert haben. Das gilt ebenso für die wiederum durch diese infizierten Personen und den darauf entfallenden Anteil der in den nächsten Monaten in den Krankenhäusern versterbenden Menschen, wenn die Intensivbetten überfüllt sein sollten. Nur weil es schwierig ist, eine ursächlichen Infektion auf dieser Demonstration zu beweisen, heißt das ja nicht, dass ein solcher Zusammenhang nicht existiert. Nach allem, was wir über Verbreitung des Virus wissen, ist es zwar an der frischen Luft geringer, aber wer dort ohne Maske singend und schreiend Polonaise tanzt, hat ein erhebliches Infektionsrisiko.
  3. Das Vertrauen der Bürger in Maßnahmen und Anordnungen des Staates ist mit dem Geschehen an diesem Tag beschädigt worden. Wie sollen Theater, Künstler und Gastwirte die Schließung ihrer Einkunftsmöglichkeiten mittragen, wenn der Staat an dieser Stelle so versagt?

Maskenverweigerer

Nach Aussagen des Polizeisprechers trugen 90% der Querdenken-Demonstranten keinen vorgeschriebenen MNS. Bilder zeigen, dass das schon vor Veranstaltungsbeginn so war. Das ist nun nicht überraschend, denn es war ja eine Demonstration der erklärten Maskenverweigerer und es ist nicht realistisch zu erwarten, dass sie mit Maske gegen die Masken demonstrieren würden. Damit stellt sich die Frage, warum dies offenbar von Anfang an toleriert wurde? Warum wurde nicht schon während der Ansammlung auf dem Augustusplatz die Maskenpflicht konsequent durchgesetzt? Warum konnte die Versammlung ganz normal stattfinden, diverse Reden gehalten werden und wurde erst nach Stunden durch die Stadt Leipzig beendet, nachdem die Versammlungsleitung sich (erwartungsgemäß) unkooperativ gezeigt hatte? Warum wurden bei rechnerisch 18 000 Maskenverweigerern lediglich 140 Ordnungswidrigkeiten geahndet? Diese Zahl aus dem Polizeibericht schließt sowohl Vergehen nach der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung als auch gegen das Versammlungsgesetz ein. Ebenso klar ist natürlich auch, dass 20 000 Menschen nicht einfach sang- und klanglos von einem Platz verschwinden, wenn sie dort erst einmal stehen. 

Scheitern mit Ansage

Es war ein Scheitern mit Ansage. Man konnte im Vorfeld recht genau wissen, was passiert, denn es gab genügend Präzendenzfälle, in Berlin, Stuttgart, München, und zuletzt in Dresden, wo die Polizei auch völlig ahnungslos überrumpelt wurde. Sowohl die Dimension der Mobilisierung als auch die erklärte Absicht, keine der Auflagen einzuhalten, waren im Vorfeld bekannt. 

Im Motto der Demonstration war einer „zweiten friedlichen Revolution“ unter (unangemessener) Inanspruchnahme der Erinnerung an die friedliche Revolution in Leipzig 1989. Wer von Revolution spricht, will keine Kritik an einzelnen Problemstellen üben, sondern fordert einen Umsturz. Das ist per se nicht harmlos, selbst wenn eine Woodstock-Happening-Atmosphäre das mitunter vergessen machen könnte.  Ebenso bekannt war, dass zu dieser Demonstration massiv von Seiten der extremen Rechten mobilisiert wurde. 

Nun kann die Polizei keine Stadt abriegeln. Wirklich? Doch, die sächsische Polizei kann das. Das hat sie bei früheren Einsätzen rings um den 13. Februar in Dresden immer wieder bewiesen. Dort ging es zwar nicht darum, die Demonstration von Staatsfeinden zu begrenzen, sondern den Gegenprotest fern zu halten. Aber Absperrgitter und Wasserwerfer standen bereit und kamen z.T auch bei Minusgraden zum Einsatz, z.B. um Menschen an der Überquerung einer Straße zu hindern. (Video: https://www.youtube.com/watch?v=N1vYuHpGKlI)

Wasserwerfer und Räumpanzer waren auch am 7.11. in Leipzig im Einsatz, aber lediglich am Abend in Connewitz. 

Es ist nicht Sache dieses Beitrages, die Polizeitaktik im Einzelnen zu beurteilen. Es geht lediglich um die Beobachtung, dass offensichtlich kein ausreichendes Bemühen bestanden hat, die Demonstrationsauflagen tatsächlich durchzusetzen. 

Was statt dessen geschehen ist, zeigt Ähnlichkeiten zu dem, was bereits 2015 in Heidenau und 2018 in Chemnitz zu beobachten war: Man wartet zunächst ab, bis sich eine Menge gewaltbereiter Neonazis zusammengerottet und z.T. soweit mit bürgerlichem Protest vermischt ist, dass die Situation polizeilich nicht mehr unter Kontrolle zu bringen ist. Das Geschehen in Leipzig hat das Gewaltmonopol der Polizei und den Rechtsstaat in Frage gestellt. Solches gibt den Feinden der Demokratie Auftrieb. Sie fühlen sich im Recht und haben nun auch das Gefühl: wir sind stärker, wir können es schaffen, die Polizei kann uns nicht aufhalten. Das nährt Umsturzgelüste der extremen Rechten. 

Schlussfolgerungen und Aufgaben

Das Geschehen des 7. 11. verlangt nach einer Aufarbeitung auf verschiedenen Ebenen. 

  1. Für die Legislative stellt sich die Aufgabe, die Rahmenbedingungen so zu schärfen, dass Verwaltungsgerichte nicht der Polizei sachlich unlösbare Aufgaben aufbürden.
  2. Für die Judikative ist zu klären, wie eine Güterabwägung zu solch desaströsen Ergebnissen kommen kann. Das Urteil des OVG ist wirklichkeitsfremd. Das muss unter Juristen geklärt werden, weil die Gewaltenteilung keinen politischen Druck auf die Richter erlaubt. Rein rechnerisch hätten auf der Fläche unter Beachtung der geltenden Abstandsregeln maximal 5600 Personen zugelassen werden dürfen. Wie soll die Polizei von früh bis Mittag eine Zugangskontrolle für 16 000 Menschen auf einem viel zu kleinen Platz einrichten? Wohin sollen die übrigen? Was soll bei dem (erwartbaren, viel zu spät erfolgten) Abbruch der Versammlung mit den 20 000 Menschen geschehen? In dem Zusammenhang ist es höchst bedenklich, dass in der Novemberausgabe des von Richtern des OVG herausgegebenen „Sächsischen Verwaltungsblattes“ ein Artikel abgedruckt wurde, in dem ein Rechtsanwalt behauptet, Covid-19 sei nicht wesentlich schlimmer als eine gewöhnliche Grippe. Wie ist es möglich, dass in einem juristischen Fachblatt Inhalte publiziert werden, die dem Stand anerkannter Wissenschaft so offensichtlich widersprechen?
  3. Für die Exekutive stellt sich die Frage, wie die Gleichbehandlung der Bürger vor dem Recht sichergestellt werden kann, wenn bei massenhaften Rechtsverstößen mit Ansage keinerlei erkennbare wirksame Gegenreaktion erfolgt. Das gilt nicht nur in Leipzig. Zudem gibt es etliche Klagen von Journalisten, dass die verfassungsrechtliche Stellung ihrer Arbeit von Polizeibeamten nicht erkannt und respektiert wird. Statt Schutz erfahren sie Behinderung und Repression. Wenn Polizeichef Schultze erklärt, „Man bekämpft eine Pandemie nicht mit polizeilichen Mitteln, sondern nur mit der Vernunft der Menschen.“ so hat er damit recht. Aber seine Aufgabe ist nicht die Bekämpfung der Pandemie, sondern die Durchsetzung des Rechts gegenüber den Unvernünftigen. Die anderen brauchen keine Polizei. Damit ist er gescheitert.

Harald Lamprecht, 8.11.2020


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Radio Corax hat mit dem Soziologen David Begrich vom Miteinander e.V. und dem Journalisten Henrik Merker gesprochen. (Ein sehr tiefgründiger Beitrag zu Strategien von Querdenken als Angriff auf die deutsche Verfassungswirklichkeit.)

AG Kirche für Demokratie und Menschenrechte

Die Arbeitsgruppe Kirche für Demokratie und Menschenrechte vernetzt sachsenweit kirchliches und nichtkirchliches Engagement gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und extremes Denken u.a. mit Veranstaltungen wie dem jährlichen Fachtag "Nächstenliebe - Polizei - Gesellschaft".

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